Deutscher Geschichtsverein des Posener Landes e.v.

Als deutsches Kind und Jugendlicher in Polen

 

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Ich wurde am 14. Juli 1942 in Renschkau (Kr. Thorn, Westpreußen) als Sohn von Hermann Jabs (1902-1973) und Martha, geb. Fischer (1905-1993), geboren, die mich auf den Namen „Friedrich Johannes Jabs" taufen ließen. Meine Vorfahren väterlicherseits sind Anfang des 19. Jahrhunderts aus Preußen (Schneidemühl, Provinz Posen und Schlochau, damals Provinz Westpreußen) als Kolonisten in den Kreis Wengrow am Bug, ca. 80 km nordöstlich von Warschau, eingewandert. Mütterlicherseits stammen meine Vorfahren aus einem anderen Grenzgebiet, dem deutsch-französischen Elsaß und sind in den 1870er Jahren auch in den Kreis Wengrow gezogen.

Wengrow ist ein sehr altes, kleines Städtchen, mit heute etwa 13.000 Einwohnern, das, schon im Jahre 1441 gegründet, eine der ersten evangelischen Kirchen in Masowien, im Herzen Polens, besaß und zum Zentrum der Reformation in dieser Region wurde. Der tolerante litauisch-polnische Magnat Bogushaw Radziwill erlaubte im Jahre 1651 den Bau einer evangelischen Kirche in Wengrow. Meine Eltern haben am 1.11.1925 in dieser Kirche geheiratet.

Von Wengrow aus wurde sogar die Hauptstadt Warschau über 100 Jahre von den evangelischen Pfarrern betreut, denn es wurde den Warschauern erst im Jahre 1777 erlaubt, eine eigene evangelische Kirche zu bauen, die 1781 als

HeiligeDreifaltigkeits-Kirche geweiht wurde.

Über das schwere Leben der Kolonisten, die in das polnische Land gerufen wurden und es urbar machten, gibt es eine alte, sehr verbreitete und bezeichnende Redensart:

Der Erste hungert tot! Der Zweite leidet Not! Der Dritte erst ißt Brot!

 

Das schwere Leben der Vorfahren

 

Mein Urgroßvater mütterlicherseits, Friedrich Fischer (geb. 1844), war französischer Soldat, denn das Elsaß gehörte bis 1871 zu Frankreich und kam erst am Ende des deutsch-französischen Krieges im Friedensvertrag von Frankfurt 1871 an das Deutsche Reich. Mein Großvater Johann Fischer (1873-1957) war sieben Jahre russischer Soldat beim letzten Zaren Nikolaus II, denn der Kreis Wengrow fiel bei der sog. 4. Teilung Polens (Wiener Kongress 1815) als Teil des

Königreichs Polen an Russland. Großvater Johann Fischer kam im 1. Weltkrieg als russischer Soldat in deutsche Gefangenschaft und durfte auf dem Hof seines Bruders Josef, der in Preußen (Groß-Reichenau, Kr. Briesen, Westpreußen) lebte, als Kriegsgefangener arbeiten, wo es ihm natürlich nicht schlecht erging.

Mein Vater Hermann war polnischer Soldat, da er polnischer Staatsbürger in dem nach dem 1. Weltkrieg neu entstandenen Polen wurde. Und ich war von 1963-1964 deutscher Soldat bei der Bundeswehr. Dies ist doch eine recht ungewöhnliche Familiengeschichte? Vier Generationen deutscher Männer meiner Familie dienten jeweils einer anderen Staatsmacht.

 

Nach Ausbruch des 1. Weltkrieges im Jahre 1914 wurden meine Eltern mit ihren Familien und den anderen deutschen Bewohnern des Dorfes - zumeist Mütter mit Kindern, denn die wehrfähigen Männer waren bereits zum russischen Militär eingezogen - nach Russland, in die Region um Saratow an der Wolga, verschleppt.

Von den fünf Kindern, mit denen meine Großmutter Wilhelmine Fischer, geb. Stemke (1882-1942), deportiert wurde, hatte meine Mutter als einzige den wochenlangen Transport im Viehwaggon überlebt, die vier jüngeren Geschwister sind an Typhus gestorben. Mutter war damals neun Jahre alt. Nach Kriegsende

durften die Deutschen 1918/1919 in ihre Dörfer zurückkehren, die total zerstört und verwüstet waren. Es folgte ein mühevoller Aufbau. Doch es sollte ihnen nicht vergönnt sein, hier länger als 20 Jahre zu leben.

Beim Ausbruch des 2. Weltkrieges wurden fast alle Männer von den Polen verhaftet und in die berüchtigten Gefängnislager Bereza Kartuska (damals im sumpfigen Osten Polens, jetzt in Weißrussland) und Treblinka (Kreis Wengrow) verschleppt.

Nachdem die deutschen Truppen - zum Glück der Gefangenen und der deutschen Zivilbevölkerung - noch im September 1939 bis hierher vorgestoßen sind, mussten alle Deutschen dieses Gebiet verlassen, das aufgrund des Hitler-Stalin-Paktes an Russland fallen sollte, was allerdings dann doch nicht geschehen ist.

Meine Familie wurde noch im September 1939 (Aktion „Heim ins Reich") in den Kreis Thorn umgesiedelt, wo sie einen Hof zugeteilt bekam, dessen polnische Besitzer kurz vorher ausgewiesen worden waren. Hier wurde ich als sechstes Kind 1942 geboren, und hier verlebte ich auch die schönsten zwei Jahre meiner frühen Kindheit.

 

1945 Flucht und Gefangenschaft bis 1949 in Potulice

 

Anfang 1945 begann die schwerste Zeit unseres Lebens, denn wir mussten uns am 18. Januar mit Pferd und Wagen auf die Flucht begeben. Der Befehl zur Flucht kam viel zu spät, und wir wurden von den russischen Truppen noch vor der Oder überrollt. Vater wurde sofort gefangengenommen. Wir haben ihn erst nach vier Jahren wiedergesehen.

Der letzten Habseligkeiten beraubt und völlig mittellos wurden wir zur Rückkehr gezwungen. Ein Oberbett hat man uns wegen der kleinen und kranken Kinder gelassen, unter dem wir dann zu dritt oder viert geschlafen haben. Meine älteste Schwester (damals 14 Jahre) hatten wir vor den russischen Soldaten unter der Sitzbank im Wagen versteckt. Noch heute sind Narben und Spuren der Erfrierungen, die sie erlitten hatte, an ihren Beinen sichtbar. Auch Mutter, die dachte, mit fast 40 Jahren schon recht alt zu sein, war vor den Zugriffen der russischen Soldaten nicht sicher. Sie hat die Kinder um sich geschart, um Erbarmen gefleht, geweint, vor den Soldaten gekniet und deren Schuhe und Knie geküsst, bis sie sie genervt wegstießen.

Ich selbst war damals 2 1/2 Jahre alt und habe daher keine genauen Erinnerungen an diese schreckliche Zeit. Mutter sagte, dass ich meistens krank war, gewinselt und geweint habe und oft wie scheintot dalag. Sie hatte keine Hoffnung mehr, mich lebend durch den Winter zu bringen. Ihre größte Sorge war, wo und wie sie mich beerdigen sollte, da die Erde so hart gefroren war und Hunde die Leichen hervorzerrten.

Obwohl ich mich nicht bewusst an die Flucht erinnern kann, habe ich doch noch Jahre nach dem Krieg, wenn es gewittert, geblitzt und gedonnert hatte, geschrien: „Mama, Mama wir müssen fahren, die Russen kommen!" So hat sich diese schreckliche Angst in meinem Unterbewusstsein festgesetzt.

Wir, d.h. Mutter, die vier älteren Schwestern und ich, wurden nach wochenlangem, qualvollem Rücktransport unter unbeschreiblichen Entbehrungen, entkräftet und halb erfroren dem Lager Potulitz (Potulice, Kreis Wongrowitz, bei Bromberg) überstellt. Nachdem wir durch das Lager getrieben worden sind, begann in einer Baracke die Registrierung und die Säuberung unter sehr unwürdigen Umständen. Wir mussten uns alle nackt ausziehen - was für die Frauen doch sehr erniedrigend war - und wurden kahl geschoren. Die Kinder schrien, da es rabiat zuging und weh tat. Dann wurden wir in eine Desinfektionskammer gedrängt. Einige meinten, es sei eine Gaskammer. Die Menschen beteten und weinten. In dem Gedränge erlitt eine hochschwangere Frau eine Fehlgeburt und keiner kümmerte sich um sie.

Unsere Kleidung muss auch desinfiziert werden, hieß es. In Wirklichkeit hat man sie nach Wertgegenständen durchsucht. Die Eheringe, den letzten Schmuck und einige Fotos, die Mutter in ihren Mantel und ihre Jacke eingenäht und vor den Russen gerettet hatte, wurden jetzt auch entwendet. So besaßen wir nun gar nichts mehr, noch nicht mal eine Erinnerung an die untergegangene Zeit. Zum Anziehen gab man uns einen Teil unserer Kleidungsstücke zurück. Die noch etwas besser aussehenden Sachen wurden auch einbehalten. Anschließend wurden die Frauen von den Kindern getrennt. Alle weinten und schrien fürchterlich. Unsere Mutter dachte, sie sieht uns nie wieder.

Von Potulitz aus wurden Mutter und die beiden ältesten Schwestern, 14 und 11 Jahre, zu Arbeiten bei polnischen Bauern abkommandiert. Die 14-jährige wurde sogar zum Sortieren von Gebeinen aus einem Massengrab gezwungen. Ich wurde in eine Baracke mit anderen Kleinkindern zusammengepfercht, blieb elend und krank, ohne ausreichende Versorgung im Lager zurück, wo mich Mutter nur am Sonntag für zirka zwei Stunden besuchen durfte. Welche Ängste ein Kind jeweils beim erzwungenen Abschied durchgemacht hat, ich will es mir nicht mehr vorstellen! Die klagenden Erzählungen meiner Mutter sind mir noch sehr lebhaft in Erinnerung.

Im Lager habe ich viele Krankheiten durchgemacht: eitrige Mittelohrentzün­dungen - ein Trommelfell ist geplatzt - Gelbsucht, Grippe, ständige Erkältungen und ganz schlimme Durchfälle. Und das alles ohne ärztliche Betreuung und ohne jegliche Medikamente! Mutter glaubte, so krank und unterernährt ich war, würde ich die nächsten Wochen nun wirklich nicht überleben. Wegen Überfüllung des Kindertraktes kam ich nach einigen Wochen in eine Baracke mit alten Männern. Die haben mir aus Mitleid etwas zu essen gegeben und sich um mich gekümmert, so gut es ging. Meine 6- und 8-jährigen Schwestern waren getrennt von mir in einem anderen Teil des Lagers untergebracht.

Wenn es mir etwas besser ging und ich meine mit Wanzen und Läusen verseuchte Pritsche verlassen und raus konnte, stand ich lange am Stacheldrahtzaun, um die beiden Schwestern zu sehen, die in Kolonnen wie kleine Soldaten marschieren und polnische Lieder singen mussten. Manchmal durften sie zu mir und haben mir das Köpfchen durch den Stacheldrahtzaun gestreichelt, mit mir gesprochen und etwas zum Essen zugesteckt, da war ich schon sehr glücklich in dem freudlosen Dasein.

Nach einigen Monaten wurde unsere Lage etwas erträglicher. Mutter hatte erbettelt, dass es ihr erlaubt wurde, uns drei Jüngsten zu ihren Arbeitseinsätzen bei den Bauern mitzunehmen. Manchmal durften wir Wochen und Monate bei einem Bauern bleiben. Trotz der schweren Arbeit war Mutter sehr froh, uns Kinder bei sich zu haben. Die Mädchen mussten Kühe und Gänse hüten, und ich durfte dabei

sein. Nun war ich nicht mehr alleine und wurde umsorgt. Und das Essen bei den Bauern war auch besser als im Lager, und so wurde ich allmählich gesund. Im

Februar 1949 wurden wir aus dem Lager entlassen. Nach mir vorliegender Unterlage sind wir vom 15. März 1945 bis 20. Februar 1949 offiziell als Insassen des Lagers Potulitz registriert worden.

 

Im Kreis Thorn im Elend angesiedelt, aber wieder vereint

 

Man brachte uns auf das Gut Seyde/Jedwabno im Kreis Thorn. Wir fingen mit absolut gar nichts an. Die jüngeren Schwestern mussten in der ersten Zeit sogar betteln gehen, um etwas Essbares zu erhalten. Ich erinnere mich, dass sich die Mädchen schämten, weinten und sich weigerten, aber es half nichts, sie mussten. Und meistens brachten sie doch ein Stück Brot mit nach Hause, denn mit Kindern hatte man ja mehr Mitleid als mit Erwachsenen. Die ältesten Schwestern (15 und 18) mussten auch auf dem Gut arbeiten.

Wir drei Jüngsten (7, 10, und 11) durften dann ab 1.9.1949 die polnische Volksschule besuchen. Den Schulbesuch hatte Mutter erkämpft, denn sie meinte: „ Was Du im Kopf hast, kann Dir keiner nehmen, und Schulausbildung, auch wenn nur in Polnisch, ist doch für die Kinder das Wichtigste". Und wie recht sie damit hatte, haben wir später selbst erfahren.

Im Frühjahr 1949 durfte Vater, der nach der Gefangennahme vier Jahre lang bei diversen Bauern, auch ohne jeglichen Lohn, arbeiten musste, zu uns. Ich habe meinen Vater nicht wiedererkannt. Er hatte Tränen in den Augen, da ich sehr abweisend ihm gegenüber war. Auch Großvater Johann Fischer, der nach 1945 bei bekannten und ihm wohl gesonnenen Polen (ehemals Dienstmädchen und Knecht) in Kulmsee/Chelmza Unterschlupf fand, hat uns ausfindig gemacht und brachte zur Freude der ganzen Familie eine Ziege und zwei Hühner mit. So waren wir nach vier Jahren wieder vereint und glücklich, überlebt zu haben und in Freiheit zu sein, die jedoch, wie es sich bald herausstellte, keine wirkliche Freiheit war.

Das Leben auf dem Gut war für die Eltern und die ältesten Schwestern, besonders in den ersten Monaten, sehr hart. Als Deutsche mussten sie schwerste Arbeiten verrichten, wurden verachtet, zum Schweigen gezwungen, denn über die Internierungsjahre durfte nicht gesprochen werden. Schon im ersten Jahr nach unserer Entlassung aus dem Lager haben die Eltern einen Antrag zur Ausreise in die Bundesrepublik Deutschland gestellt. Der wurde jedoch abgelehnt mit der Begründung, dass kein Fall von Familienzusammenführung vorliege. Und im übrigen wären wir ja wohl Polen, da wir doch in Polen geboren worden sind.

Jetzt sollten wir auf einmal Polen sein, warum hat man uns denn dann vier Jahre interniert? Solche Gedanken wurden natürlich nur im engsten Familienkreis ausgesprochen, denn die Angst vor Repressalien war noch groß und durchaus berechtigt. Trotzdem gaben meine Eltern die Hoffnung nicht auf und stellten jedes Jahr aufs neue einen Antrag zur Ausreise nach Deutschland.

 

Die Bestrebung und Gefahr der Polonisierung

 

Meinen ersten Schulbesuch erlebte ich in Leibitsch/Lubicz, ca. 4 km von dem Gut Seyde/Jedwabno entfernt. Natürlich fuhr kein Bus dorthin. Wir mussten diese Strecke jeden Tag zu Fuß hin- und zurückgehen. Im Sommer war es nicht schlimm, aber im Winter, ohne richtige Schuhe und Kleidung, doch sehr beschwerlich, und wir waren oft erkältet. In der Schule kam ich von Anfang an gut mit. Mein Polnisch war mittlerweile so gut wie das der anderen Mitschüler. Meine Vornamen wurden polonisiert: Aus Friedrich Johannes wurde Fryderyk Jan. Mein Rufname war „Janek". Aber natürlich wurde bekannt, daß wir Deutsche waren. In der Schule und während der Pausen ließ man uns in Ruhe, aber vor den Heimwegen hatten wir Angst. Wir wurden als „Szwaby" und „Hitlerowcy" von polnischen Kindern beschimpft, mit Steinen beworfen, bespuckt und gestoßen. Wenn wir schon von weitem sahen, dass uns größere Kinder entgegenkamen, haben wir uns in Straßengräben oder hinter Bäumen versteckt, damit wir den Schikanen aus dem Weg gehen konnten. Die ersten Wochen der Schulzeit waren für uns also wieder mit Ängsten verbunden. Später hat sich das gelegt, aber ich blieb noch lange ein verängstigtes Kind.

Mein ganzes Bestreben war es nun, nicht als Deutscher aufzufallen und so zu sein wie die polnischen Kinder. Denn ich hörte ja ständig, dass die Deutschen Mörder und Verbrecher seien, ja Bestien, denn normale Menschen seien zu solchen Untaten nicht fähig. Erst fünf Jahre nach dem Krieg war der Hass gegen alles Deutsche noch sehr groß und sicherlich auch verständlich. Gerade die Deutschen aus dem Osten mussten stellvertretend für die „deutsche Schuld" an dem schrecklichen Krieg und dessen Auswirkungen büßen.

Besonders Großvater bemerkte, dass ich mich auch innerlich immer mehr vom Deutschtum entfernte. Er sagte, ich sei doch ein deutscher Junge, und nicht alle Deutschen seien schlecht und Verbrecher. Aber die schulische Erziehung und die Stimmung im Lande trug schon ihre Früchte: Ich hörte nicht auf den Großvater und die Eltern. Es kam schließlich so weit, dass Großvater mir kleine Geschenke machte und ab und zu sogar ein paar Groschen gab, damit ich mit ihm in einem von irgendwoher organisierten deutschen Kinderbuch („Willy und Dora") Deutsch übte. Jahre später habe ich mich dafür geschämt.

 

Die gescheiterte Ausreise in die Bundesrepublik Deutschland

 

Meine Eltern wollten unbedingt nach Deutschland und haben nach jeder Ablehnung neue Anträge zur Ausreise gestellt. Im Frühjahr 1951 erhielten wir die Genehmigung zur Ausreise in die Bundesrepublik, und zwar zur Schwester unserer Mutter, der die Flucht in den Westen 1949 gelungen war und die bei Hamburg lebte. Was war das für eine Freude, als wir diese Ausreisegenehmigung in den Händen hielten, das Glück war unbeschreiblich!

Es wurde ein Fest mit den polnischen Nachbarn gefeiert. Die Haushaltsgegen­stände, die wir uns in den letzten zwei Jahren angeschafft haben, wurden verschenkt. Es war nicht viel, was wir besaßen, aber immerhin ging es uns schon besser als den meisten auf dem Gut lebenden Polen. Vier Personen unserer Familie haben gearbeitet und auch etwas Geld verdient, das die Mutter zusammengehalten hat. So konnte das Notwendigste angeschafft werden. Überglücklich wurde fast alles verteilt, denn „wir fahren nach Deutschland, „da brauchen wir das alles nicht mehr," dachten wir. Hätten wir nur geahnt, was uns bevorsteht, hätten wir sicher anders gehandelt. Unser Ausreisebahnhof sollte Nakel/Nakto bei Bromberg sein. Als wir, das waren meine Eltern, fünf Kinder und der Großvater, nach eintägiger beschwerlicher Zugfahrt dort ankamen, glaubten wir am Ziel unserer Wünsche zu sein. Man hörte schon deutsche Laute und alle waren glücklich und dankbar, endlich nach Deutschland zu kommen.

Für unsere Familie jedoch bahnte sich eine Katastrophe an: Vater wurde zur Befragung vor eine polnische Kommission gerufen und kam nach einiger Zeit völlig niedergeschlagen und verstört heraus. Wir erfuhren, dass wir doch nicht ausreisen dürfen. Um Fassung ringend, erzählte Vater nur kurz von der Vernehmung: Auf die Frage des Vorsitzenden, warum wir denn ausreisen wollen, wo doch die ganze Familie den Krieg offensichtlich so gut überstanden hat und wir nun alle glücklich in Polen leben können, antwortete mein Vater: „Wir fühlen uns als Deutsche, wir sind Deutsche und wollen nach Deutschland." Der Wortführer fing daraufhin an, meinen Vater laut und fürchterlich zu beschimpfen. Wie könnte er es wagen, so aufzutreten. Die Deutschen sind doch Verbrecher und Mörder. Ob er (mein Vater) nicht wüsste, was die Deutschen den Polen angetan haben, und er solle sehr dankbar sein, dass er und seine Familie noch leben, aber das könnte sich noch ändern!

Vater war am Boden zerstört, fühlte sich schuldig und wollte sich schon aus Verzweiflung das Leben nehmen. Aber dank Zureden unserer Mutter, die stark war und immer an die Kinder dachte, konnte das Schlimmste verhindert werden. Vater hat über diese Sache nie wieder gesprochen. Großvater jedoch durfte zu seiner Tochter nach Hamburg ausreisen. Die Abschiedsszene war für meine Mutter und mich besonders schlimm. Ich habe Großvater sehr geliebt, weil er so

schöne und gruselige Geschichten, besonders aus seiner langjährigen Dienstzeit als russischer Soldat, erzählen konnte. Er war ja fast 80 Jahre alt und als Arbeitskraft nicht mehr interessant. Von einer Familie mit fünf Kindern konnte man sich ja noch einiges erhoffen. Dieses ist uns aber erst später klar geworden, nachdem wir erfahren haben, dass ausreise willige Deutsche den polnischen Funktionären Geld zugesteckt haben. Aber unsere Eltern waren zu gutgläubig. Andererseits hatten sie ja auch keine Kontakte zu anderen Deutschen, um etwas über solche Praktiken zu erfahren. Vielleicht wären wir damals schon, also sieben Jahre früher, nach Deutschland gekommen, und alles wäre für uns viel einfacher gewesen, wenn wir die entsprechenden Leute geschmiert hätten.

 

Der 2. Neuanfang im Kreis Thorn

 

Völlig niedergeschlagen und verzweifelt wurden wir nun auf das Gut Nefer/ Nawra, auch im Kreis Thorn, gebracht. Im ehemaligen Gutshaus wurden uns zwei Zimmer zugewiesen. Meine Eltern und die zwei ältesten Schwestern mussten wieder auf dem Gut arbeiten, wir drei Jüngeren durften weiterhin die polnische Schule besuchen. Ich ging in die 2. Klasse der kleinen Dorfschule, in der jeweils drei Jahrgänge gemeinsam untergebracht und abwechselnd von demselben Lehrer unterrichtet wurden. In diesem Dorf Nefer/Nawra besuchte ich die Klassen 2, 3 und das erste Halbjahr der Klasse 4. Ich begann, mich mit den Kindern anzufreunden, wurde immer seltener als Deutscher erkannt und beschimpft. Schön fand ich, dass wir Kinder in dem großen, schönen Park spielen konnten. In dem großen gutseigenen Garten haben wir Obst und Gemüse „organisiert".

Gehasst habe ich aber, im Winter zum Heizen des Schulraumes eingeteilt zu werden. Diese Aufgabe mussten jeweils zwei Schüler übernehmen, die 45 Minuten früher kommen mussten, damit der Raum um 8 Uhr schon vorgeheizt war. Vater wurde allmählich von den Polen anerkannt, ja sogar geachtet, da er handwerklich sehr begabt war. Er wurde auch als Stellmacher beschäftigt, reparierte Wagen, Pferdegeschirr und alles Mögliche beim Direktor des Gutes und den Nachbarn. Die ältesten Schwestern hatten bereits die ersten Freundschaften mit polnischen Jungen geknüpft und durften samstags schon mal zum Tanz. Da habe ich mit zwölf Jahren zum ersten Mal einen Plattenspieler gesehen und für meine Begriffe damals wunderschöne Musik gehört. Ich war ganz begeistert. Nach den schweren Zeiten, die wir durchgemacht haben, kam mir das Leben doch sehr schön vor, da ich ja nichts Besseres mehr kannte, und ein junger Mensch hat ja die Fähigkeit, sich seiner Umgebung schnell anzupassen. Sicherlich muss das auch so sein, um überleben zu können. Mutter jedoch wollte sich mit dieser Situation nicht abfinden. Sie sah, dass wir auf dem besten Weg waren, polonisiert zu werden. Sie kämpfte, so klein sie war, wie eine Löwin für das Deutschtum, natürlich nur im Hause.

 

Umzug und erster „Wohlstand" im Kreis Marienwerder

 

Mitte des Jahres 1953 zogen wir auf das Gut Groß Tromnau (Trumieje, Kr. Marienwerder/Kwidzyn). Die Eltern haben gehört, daß dort noch Deutsche leben und versuchten natürlich, Kontakte zu den Dagebliebenen zu knüpfen. Ganz besonders wichtig war es, dass es da die Möglichkeiten gab, evangelischen Gottesdienst, natürlich nur in polnischer Sprache, zu besuchen. Wir drei Jüngsten waren ja noch nicht konfirmiert.

Dieses Gebiet gehörte zwischen den Kriegen zu Deutschland, gehörte also nicht zu dem „Korridor" und ist immer noch etwas deutscher, glaubten die Eltern, und wer weiß, vielleicht wird das wieder deutsch, hofften sie. Es gab tatsächlich noch einige Deutsche dort, teils auch schon mit Polen verheiratet. Ihre wirtschaftliche Lage war nicht besonders gut, aber immer noch besser, als die der meisten dort lebenden Polen, die z.T. aus den von der Sowjetunion besetzten Gebieten Ostpolens stammten. Auch konnten wir alle vier Wochen den evangelischen Gottesdienst in Freystadt/Kisielice besuchen.

Für die älteste Schwester wurde sogar ein deutscher junger Mann gefunden, und sie heirateten, wurden glücklich und haben inzwischen die goldene Hochzeit gefeiert. Die zweite jedoch „musste", zu unserem Leidwesen, einen katholischen jungen Polen ehelichen, da ein Kind unterwegs war. Eine ledige Mutter zur damaligen Zeit wäre ja eine Schande für die ganze Familie gewesen.

Die Eltern arbeiteten auf dem Gut Tromnau/Trumieje. Ich ging in die Klassen 4, 5, 6 und 7, hatte Freunde, wurde mit ihnen von der Schule aus in den Ferien ins Zeltlager geschickt, wir machten interessante Klassenfahrten, und ich fühlte mich wohl. Die beiden jüngeren Schwestern gingen in Marienwerder auf das Lyzeum. Da es unmöglich war, mit dem Bus jeden Tag von Tromnau nach Marienwerder zu fahren, mussten sie im Internat des Lyzeums leben. Sie bekamen ein Stipendium - vorausgesetzt, dass ihre Leistungen entsprechend gut waren.

Im Sommer 1956 hatte mein Vater eine bessere Stellung in dem nicht weit von Marienwerder entfernten Gut Garnsee/Gardeja angeboten bekommen, und wir sind dorthin umgezogen. Es stand uns eine kleine Doppelhaushälfte mit Küche und zwei Zimmern zur Verfügung, was damals schon Luxus bedeutete. Ein Gemüse- und Obstgarten gehörte auch dazu. Jedoch für uns Schüler war das Wichtigste, dass es dort einen Bahnhof gab, von wo wir mit dem Zug zu höheren Schulen nach Marienwerder fahren konnten. Die Schwestern waren durch den

Druck, die Internatskosten mit guten Leistungen zu erkaufen, doch auf die Dauer überfordert, so waren wir alle sehr erleichtert.

Ich hatte die 7-jährige polnische Volksschule mit gutem Resultat beendet und durfte mich - mit Empfehlung des Direktors - zur Aufnahme in ein Gymnasium in Marienwerder bewerben. Ich musste dort eine schriftliche und eine mündliche Aufnahmeprüfung ablegen und durfte zwischen den Fremdsprachen Latein und -erstaunlicherweise - schon Deutsch wählen. Russisch war selbstverständlich Pflichtfach. Natürlich wählte ich Deutsch, obwohl ich der deutschen Sprache mittlerweile kaum noch mächtig war. Deutsch in der Öffentlichkeit zu sprechen, war ja verboten. Zu Hause sprachen meine Eltern vorwiegend deutsch mit uns, wir antworteten jedoch auf polnisch, bis nach und nach die Muttersprache, besonders bei mir, in Vergessenheit geriet.

Im Gymnasium wusste keiner meiner Mitschüler, dass ich Deutscher war. Man merkte es mir nicht mehr an, und freiwillig sprach ich nicht darüber. Ich wollte nicht anders als die anderen Mitschüler sein, und einer Verbrechernation wollte ich natürlich auch nicht angehören, denn es wurde immer noch sehr viel über die Greueltaten der Deutschen gesprochen und entsprechende Filme gezeigt. Daß den Deutschen von den Russen und Polen auch viel Leid angetan wurde, darüber durfte nicht gesprochen werden, sonst wäre man im Gefängnis gelandet.

Aber auch in Deutschland wurden „Flucht und Vertreibung" ebenfalls lange Zeit verschwiegen. Man befürchtete offenbar, dass dieses Thema die deutschen Verbrechen relativieren könnte. Deutsche sind Täter, keine Opfer! Das war die Aussage, die man offiziell, besonders im Ausland, hören wollte und oft noch hören will.

Besuch des Gymnasiums in Marienwerder

 

Die ersten Wochen im Gymnasium waren ein Schock für mich. In der Volks­schule war alles für mich recht einfach gewesen, die Lehrer waren nett, und ich wurde ohne Probleme in die nächste Klasse versetzt. Aber das Gymnasium war eine völlig andere Welt. Die Pädagogen waren äußerst streng und den Schülern fast feindlich gegenüber eingestellt. Von Montag bis Samstag hatten wir jeden Tag sechs Stunden Unterricht und anschließend für jedes Fach Hausaufgaben zu erledigen. Diese waren so umfangreich, dass ich den ganzen Nachmittag und manchmal noch abends beschäftigt war. Vor wichtigen Klassenarbeiten stand ich schon um 5 Uhr auf, um den Stoff noch einmal durchzuarbeiten.

Jeder Schüler musste ein Tagebuch führen, in das täglich das jeweilige Thema der Unterrichtsstunde, Fehlstunden und Feiertage sowie Einladungen zu Eltern­sprechtagen u. ä. einzutragen waren. Zu mündlichen Tests musste man vor die Klasse treten und wurde streng examiniert. Das war anfangs sehr unangenehm für mich, und ich hatte große Komplexe.

Im Tagebuch wurden auch die Noten der Tests und der Klassenarbeiten vermerkt. Jede Woche musste der Erziehungsberechtigte den Inhalt des Tagebuches zur Kenntnis nehmen und unterschreiben. Im ersten Quartal waren meine Leistungen, besonders die mündlichen, recht mäßig. Da ich aber mithalten wollte, habe ich sehr hart für die Schule gearbeitet. Am Ende jedes Quartals wurden auf einer großen Tafel in der Aula die Fotos und die Namen der drei besten Schüler jeder Klasse vorgestellt. Im 3. Quartal gehörte ich auch zu denen und war natürlich über diese Auszeichnung sehr stolz. So habe ich mich nach einigen Monaten sehr gut in die Klasse integriert.

Abgesehen von dem Druck habe ich auch schöne Zeiten auf dem Gymnasium erlebt. Ab und zu machten wir mit der ganzen Klasse Ausflüge in die nähere Umgebung. In den Ferien fuhren wir des Öfteren ins Zeltlager. Im Herbst wurden wir zur Kartoffelernte abkommandiert, was unter Gleichaltrigen, besonders abends beim Lagerfeuer, Spaß gemacht hat. Natürlich wurden da auch patriotische und kommunistische Lieder gesungen, aber das hat mich gar nicht gestört. Nur bei der „Rota", dem gegen die Deutschen mit abgrundtiefem Hass erfüllte Lied, bekam ich Herzklopfen und Angstgefühle, denn dieses Lied habe ich in Potulitz gehört, es war für mich mit Schrecken und Schmerzen verbunden. Der Titel „Rota", glaube ich, soll auf die Sacra Rota und Rota Romana hinweisen, den höchsten Gerichtshof der kath. Kirche oder gar auf das Jüngste Gericht, das den Deutschen bevorsteht. (Der Text stammt von der in Polen sehr bekannten Schriftstellerin Maria Konopnicka.)

 

Die nicht mehr erwartete Ausreise (1958)

 

Es war Mitte Februar 1958. Mutter war gerade zu dem - nach zwei Jahren Wartens -genehmigten Besuch ihres damals sehr kranken Vaters, der aber in der Zwischenzeit verstorben war, nach Hamburg gefahren, um nun ihre Schwester zu besuchen. Sie war erst einige Tage in Deutschland, da bekamen wir die Nachricht, daß unsere Ausreise in die Bundesrepublik Deutschland nun genehmigt sei und wir innerhalb von 14 Tagen Polen verlassen müssten. Ausgerechnet jetzt, wo Mutter in Deutschland war, kam der Bescheid. Wir haben uns noch Jahre danach gefragt, ob das Zufall oder Schikane war. Ohne Mutter, den Motor der Familie, waren wir natürlich ratlos. Also schickten wir ein entsprechendes Telegramm nach Hamburg. Mutter kam drei Tage später in Garnsee an, schleppte sich mit

Koffern und Taschen voller Geschenke für uns ab. Auf die Vorhaltungen des Vaters, die schweren Koffer hätte sie doch für uns in Deutschland zurücklassen können, da wir nun ausreisten, sagte sie, sie glaubte es erst, wenn wir im Zug sitzen. Wir hatten ja unsere Erfahrungen gemacht...

Meine Familie hatte nun sehr viel Arbeit und Aufregung mit der Vorbereitung der Ausreise. Wir durften fast alles, sogar Möbel, mitnehmen. Aber außer dem Schlafzimmer, das kurz zuvor neu angeschafft wurde, haben wir die restlichen Gegenstände und Sachen wiederum verschenkt, denn es war ja nichts Besonderes, aber die polnischen Nachbarn waren glücklich darüber.

Ich jedoch wusste anfangs nicht, ob ich mich freuen oder traurig sein sollte. Nachdem ich in der Schule mitgeteilt habe, dass wir nach West-Deutschland ausreisen, wurde ich nun zum gefragtesten Schüler der Klasse. Ich hatte bereits die hier so begehrten Nietenhosen an, die mir meine Mutter mitgebracht hatte. Und auf meine erste Armbanduhr war ich besonders stolz. Sogar die Lehrer wurden nun freundlicher und wollten Näheres von mir erfahren.

In Erinnerung geblieben ist mir ein Satz meines Mitschülers und Freundes Wacek, der meinte: In ein paar Jahren müsste ich bestimmt zur Bundeswehr, da könnte es doch passieren, dass wir uns als Feinde gegenüberstünden... Das hat mich doch sehr nachdenklich gestimmt. Aber ich begann, mich auf das neue Leben in Deutschland zu freuen und mich darauf vorzubereiten. Dem Freund sagte ich allerdings, dass Polen immer meine zweite Heimat bleiben wird und habe ihm versprochen, zu schreiben. Geschrieben haben wir uns über sieben Jahre, bis ich dann wirklich zur Bundeswehr kam. Ich gehörte dem FND (Frontnachrichten­dienst/Ost für die Sprachen Polnisch und Russisch) an, musste daher jeden Kontakt mit dem Osten melden, was mir mit der Zeit doch zu lästig war und ich den Briefkontakt zu ihm einstellte.

Am 3. März 1958 nachmittags wurden wir mit unserem Gepäck von den polnischen Nachbarn mit Pferdewagen zum Bahnhof Garnsee gefahren. Die Nachbarn waren beim Abschied sehr traurig, einige weinten, denn es hat sich mittlerweile zwischen uns ein gutes Verhältnis entwickelt. Unsere Familie bestand jetzt aus den Eltern und drei Kindern. Die beiden ältesten Schwestern waren mittlerweile verheiratet und hatten bereits selber Kinder. Die Älteste durfte mit ihrem deutschen Mann und drei Kindern einige Monate später ebenfalls ausreisen. Die Schwester, die den Polen geheiratet hatte, blieb dort.

Von Garnsee fuhren wir mit der Eisenbahn über Marienwerder, Danzig, Stolp nach Stettin, von wo unsere Ausreise erfolgen sollte. Dieses Mal waren wir, verständlicherweise, besonders nervös. Die Beamten, die die Ausreiseformalitäten mit uns erledigten, waren abweisend und unfreundlich. Es war auch überall

Polizei zu sehen, was uns Angst machte. Doch es klappte dieses Mal wirklich, und wir atmeten auf, als wir im Zug nach Deutschland saßen.

Als wir die Grenze passierten, waren wir zwar in Deutschland, aber die DDR sah auch nicht besser aus, und der innerdeutsche Grenzübergang war ebenfalls furchteinflößend. Die DDR-Grenzbeamten waren noch unfreundlicher als die polnischen. Nachdem wir jedoch auf dem Gebiet der Bundesrepublik Deutschland waren, gingen „Deutschland, Deutschland-Rufe" durch den Zug, plötzlich hörte man überall lautes Reden und Lachen, die ersten deutschen Lieder wurden angestimmt.

Im Westen Deutschlands sah es ganz anders aus, und für mich war alles, was ich sah, faszinierend: schmucke Häuser, saubere Straßen, die großen Autobahnen mit den vielen, vielen schönen Autos. So etwas hatte ich in meinem bisherigen Leben noch nicht gesehen! In die Abteile kamen nun nette Rot-Kreuz-Mädchen und Frauen, brachten uns etwas zu essen und zu trinken, und alles war kostenlos. Ich dachte, ich bin im Land, wo Milch und Honig fließen und war total begeistert! Die erste Banane meines Lebens schmeckte mir aber absolut nicht. Ich dachte, ich beiße auf Seife.

Und dann kam Friedland!

Es war der 5. März 1958. Schon der Name Friedland übte auf mich einen magischen Klang aus: Ich verband mit ihm Frieden, Wohlergehen, Glück u.a. Als wir ausstiegen, läutete die große Freiheits-Glocke, Menschen lagen sich in den Armen und weinten. Die ersten Angehörigen haben sich gefunden, es spielten sich herzergreifende Szenen ab. Ich habe meine Eltern noch nie so glücklich gesehen wie bei der Ankunft in Friedland. Mir jedoch wurde vor so viel Emotionen schon fast bange.

Friedland, obwohl es ja im Grunde ein Barackendorf war, erschien mir sehr schön. Die Holzhäuser waren farbig angestrichen, es gab saubere, gepflegte Wege und Straßen. Ich habe zum ersten Mal Spielplätze für Kinder, mit schönen Spielgeräten, gesehen. Und das Überwältigendste: Überall waren freundliche Helferinnen und Helfer. Meine erste sprachliche Begegnung mit einer netten Helferin war jedoch eine peinliche Niederlage. Auf ihre Frage, wann wir denn in Friedland angekommen sind, antwortete ich „morgen" und erntete Gelächter, was ich zuerst nicht verstand, da ich ja eigentlich „gestern" meinte. Meine Sprachkenntnisse ließen ja noch sehr viel zu wünschen übrig.

Im Lager Friedland wurden wir registriert und ärztlich untersucht. Wir bekamen pro Kind je 50 DM Begrüßungsgeld, die Eltern je 100 DM. Zusätzlich erhielten wir je 10 bzw. 20 DM Überbrückungsgeld. Am 7. März 1958 verließen wir Friedland Richtung Hamburg. Für unterwegs hat man uns noch reichlich mit

Reiseverpflegung versorgt. Dies alles ist auf dem Registrierschein für Aussiedler/Flüchtlinge Nr. 104521, der mir noch vorliegt, vermerkt. Damit lag nun mein „polnisches" Leben hinter mir, und ich war ganz gespannt, was mich in Deutschland erwartet. Es kam noch ganz viel, denn mein Leben fing ja hier erst richtig an.

 

Jabs, Friedrich Johannes geb. 1942 in Renschkau (Kreis Thorn, Westpreußen), Sohn deutscher Siedler aus den Kreisen Schneidemühl und Schlochau, die im frühen 19. Jahrhundert in den Kreis Wengrow am Bug einwanderten, mütterlicher­seits aus dem Elsaß stammend; im 1. Weltkrieg wurde die Familie nach Rußland verschleppt, 1939 Umsiedlung in den Kreis Thorn, 1945 Flucht und Rückkehr, im Lager Potulitz interniert, Schulbesuch in Polen, 1958 als Spätaussiedler nach Westdeutschland, verheiratet, eine Tochter, gelernter Kaufmann, Einkaufsleiter in einem Edelstahlwerk in Düsseldorf-Erkrath, inzwischen im Vorruhestand, Mitglied des „Deutscher Geschichtsverein (DGV) des Posener Landes e.V."